Mittwoch, 11. Januar 2017

Fliegenplage

(c) Stefan Köhler-Holle, Bremen Januar 2017

Ich sitze im Fahrradwaggon des Zuges 52884 von Bremen-Burg nach Bremerhaven. Es ist ein Zug der Nordwestbahn. Außen in Blautönen gehalten, sowohl der Originalanstrich, als auch das Graffiti. Mir ist langweilig und ich bin müde. Das Geräusch des Zuges trägt nicht dazu bei, dass die Müdigkeit verschwindet. Plötzlich erregt eine Fliege meine Aufmerksamkeit. Sie fliegt mir vor dem Gesicht herum. So nah, dass ich den Windzug ihrer Flügel spüre. Ich überlege, wie ich sie verscheuchen kann. Mit meiner rechten Hand fuchtele ich vor meinem Gesicht herum. Die Fliege scheint unbeeindruckt davon zu sein. Neben mir sitzt eine ältere Dame. Sie schaut erschrocken aus. Ich habe es mit dem Fuchteln wohl übertrieben. Zumindest ist die Fliege ersteinmal verschwunden.

Ich sitze im Fahrradwaggon des Zuges 52884 von Bremen-Burg nach Bremerhaven. Mir ist langweilig, aber ich bin nicht mehr müde. Ich schaue aus dem Fenster. Auf einer Weide sehe ich die ersten Schafe grasen. Lämmer sind noch nicht dabei. In der Ferne sehe ich die Autobahn. Heute Vormittag ist dort wenig Verkehr. Zum wiederholten Male schaue ich auf das Hinweisschild zum Schwarzfahren. Ich habe eine Fahrkarte im Portemonnaie. Doch ich konnte sie nicht stempeln, weil der Entwerter mal wieder defekt war. Das bereitet mir ein mulmiges Gefühl. Da ist sie wieder. Die Fliege. Sie setzt sich auf mein Bein. Ich bleibe ruhig sitzen. Fixiere sie mit meinen Blicken. Gerade als ich mich entscheide, meine Hand zu bewegen, fliegt sie weg, um Sekunden später wieder auf meinem Bein zu landen. Diesmal versuche ich, mit der Hand schnell zuzuschnappen. Dabei haue ich mir mit voller Wucht auf den Oberschenkel. Die Dame neben mir springt erschrocken auf. Setzt sich jedoch wieder. Die Fliege ist weg und der Zug hält planmäßig in Ritterhude.

Ich sitze im Fahrradwaggon des Zuges 52884 von Bremen-Burg nach Bremerhaven. Mir ist langweilig, aber ich bin nicht mehr müde. Vier Sitze neben mir sitzt ein Mann mittleren Alters. Er hat einen leichten Ansatz zu Geheimratsecken und einen Dreitagebart. Er liest die aktuelle Ausgabe der Bildzeitung. Ich lehne mich zurück und versuche heimlich, einen Blick auf die Schlagzeile zu werfen. Doch er blättert um. Mir gegenüber sitzt ein junger Typ. Dreadlocks trägt er, eine braune, viel zu weite Cordhose und eine verwaschene Jacke. Er liest in einem Asterixheft: Asterix bei den Briten. Dem Aussehen des Heftes nach zu urteilen, wurde es schon hunderte Male gelesen. Braune Ränder und umgeknickte Ecken hat es. Da kitzelt es in meinem Nacken. Ich streiche mit meiner rechten Hand darüber und trinke einen Schluck Fanta. Nachdem die Flasche wieder verstaut ist und ich ruhig sitze, kitzelt es wieder in meinem Nacken. Ich höre es summen. Sie ist wieder da. Die Fliege. Zart fühle ich auf meiner Haut den Windstoß ihrer Flügel. Ich streiche etwas wilder mit meiner linken Hand im Nacken. Das Kitzeln ist weg. Dafür hat die Fliege sich auf das rechte Brillenglas der Dame neben mir gesetzt. Sie fängt leicht an zu schielen und schüttelt mit dem Kopf. Der Zug hält in Osterholz-Scharmbeck.

Ich sitze im Fahrradwaggon des Zuges 52884 von Bremen-Burg nach Bremerhaven. Mir ist langweilig, aber ich bin nicht mehr müde. Der Mann mittleren Alters ist in Osterholz-Scharmbeck ausgestiegen. Doch seine Bildzeitung hat er liegen lassen. Außer mir, dem Typen mit den Dreadlocks und der älteren Dame sitzt niemand in diesem Waggon. Ich schaue mich kurz um, greife die Bildzeitung und tue so, als hätte es niemand bemerkt. Jedoch schüttelt der Typ mit dem Kopf und die ältere Dame kichert. Ich bleibe eine Zeitlang ruhig sitzen. Die Zeitung liegt bei mir auf dem Schoß. Jedoch zusammengeklappt. Ich kann die Schlagzeile also immer noch nicht lesen. Der Schaffner kommt in den Waggon und bittet höflich um die Fahrkarten. Mir ist ja ein wenig mulmig, weil die Fahrkarte nicht abgestempelt ist. Als ich meine aus dem Portemonnaie holen will, fällt unbemerkt die Zeitung auf den Boden und unter meinen Sitz. Ich gebe dem Schaffner meine Fahrkarte, er stempelt sie ab und unterschreibt sie. Er gibt sie mir zurück und wünscht eine gute Fahrt. Ich schaue nach der Zeitung. Weg. Unter den Sitz schaue ich nicht. Da sitzt auf dem linken Brillenglas der älteren Dame eine Fliege und eine schwirrt mir vor der Nase herum. Ha, das Biest hat sich Verstärkung geholt. Die ältere Dame schielt leicht und ich fuchtele mit beiden Armen. Die Fliege fliegt etwa einen Meter vor mir herum. Da springe ich auf, der Sitz klappt gegen die Wand und ich sehe auf dem Boden die Zeitung liegen. Ich rolle sie zusammen und setze mich. Doch die beiden Fliegen sind weg.

Ich sitze im Fahrradwaggon des Zuges 52884 von Bremen-Burg nach Bremerhaven. Mir ist langweilig, aber ich bin nicht mehr müde. Ich überlege, ob ich die Zeitung aufrolle, um endlich die Schlagzeile zu lesen. Doch ich beschließe, sie zusammengerollt zu lassen, um darauf vorbereitet zu sein, damit zuzuschlagen, wenn die Fliegen zurückkommen. Mittlerweile hat der Zug in Stubben gehalten und fährt wieder seinem Ziel Bremerhaven entgegen. Sein eintöniges, monotones Geräusch ist zu hören. Ich fange an, mir blöde Gedanken zu machen. Was wäre wohl, wenn die Fliege auf dem Oberschenkel der älteren Dame sitzt und ich mit der Zeitung drauf haue. Gerade in dem Moment lächelt sie mich an und auf ihr linkes Brillenglas setzt sich eine Fliege. Tja, jetzt muss ich mich entscheiden, wie die Geschichte weiter geht. Wähle ich den dramatischen Verlauf? Oder besser einen, der dazu führt, dass ich keine Backpfeife bekomme? Andererseits könnte die ältere Dame so perplex sein, dass sie entweder gar nichts sagt oder in Ohnmacht fällt. Ich entscheide mich dazu, meine Reise fortzusetzen.

Und was soll ich sagen? Ich sitze im Fahrradwaggon des Zuges 52884 von Bremen-Burg nach Bremerhaven. Mir ist nicht mehr langweilig und ich bin nicht mehr müde. Meine Gedanken halten mich wach und ich spiele mit den verschiedenen Möglichkeiten, wie diese Geschichte zu Ende geht. Wie könnte ein Happy End aussehen? Die Fliegen sind alle weg und ich halte immer noch die zusammengerollte Zeitung in meiner Hand. Der Zug rollt seinem Ziel entgegen. Im Waggon sitzen immer noch der Typ mit den Dreadlocks, die ältere Dame mit dem rechten und linken Brillenglas und ich mit der Zeitung in der Hand. Da wieder Langeweile aufzukommen droht, entschließe ich mich, die Zeitung aufzurollen und die Schlagzeile zu lesen. Ich rolle sie auf. In großen, roten, fetten Buchstaben steht dort: „Fliegenplage in Bremen“. Und auf dem „F“ des Wortes Fliegenplage klebt eine tote Fliege. Entweder ist das eine sehr originelle neue Marketingstrategie oder der Mann mittleren Alters hat diese Zeitung nicht nur zum Lesen benutzt.

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